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Athey Lebt!

Von Daniel Mufson
2 Februar 2009

  

Ron Athey.

Ron Athey.

Ein leiser, hoher elektronischer Ton geht von Lautsprechern aus, während das Publikum den Saal des Hebbel am Ufer (HAU2) betritt. Das Publikum sammelt sich um einen schmalen Tisch mit Glasscheiben an beiden Enden. Zwischen den Scheiben kniet ein nackter Mann auf allen Vieren, sein Körper ist mit Tattoos übersät, sein Kopf mit einer üppigen, blonden Perücke bedeckt. Der Mann ist Ron Athey, die Performance heißt Self-Obliteration #1 and #2. Diese Fakten allein reichen, um eine Spannung zu kreieren-besonders für diejenigen, die wissen, dass Atheys Martyrs and Saints von 1993 Selbstverstümmelungstaten zeigten, die so störend waren, dass manche Zuschauer weggekippt sind.

 
Bewegungslos hinter dem Glas hockend, erinnert Athey an eine der berühmten Installationen, in denen Damien Hirst Tiere eingeschlossen in Vitrinen präsentiert. Mit 47 hat Athey den geschmeidigen, muskulösen Körper eines Athleten. Trotz zwei Jahrzehnte mit HIV lebend, zeigt er keine sofort erkennbaren Anzeichen der Krankheit. Nachdem das Publikum eingetreten ist, fängt er langsam an, seine Perücke zu bürsten. Die Bewegungen beginnen langsam aber kraftvoll wegen der Haarknoten. Mit steigendem Tempo fallen beim Bürsten Haarsträhnen aus. Er fängt an, gegen den Strich zu bürsten, so dass die Perücke schnell ausfranst. Als er schließlich versucht, die Perücke zu entfernen, sehen wir, dass sie eigentlich an seiner Kopfhaut festgesteckt ist, und er fängt an, heftig zu bluten, als er die Nadeln herauszieht. Er nimmt die Glasscheiben aus ihren Halterungen, und lässt sein Blut darauf tropfen. Er hält die Scheiben gegen das Licht, so dass wir die abstrakten Muster tropfender Röte im Bühnenlicht schimmern sehen können: Blutglasfenster. Dann bemüht er sich, sich auf dem Tisch auszustrecken, und die Scheiben auf seinen Körper zu positionieren. Seine Hände und Arme und Kopf zittern vom Gewicht des Glases. Pause. Dann schafft er es irgendwie, sich zu erheben, um die Scheiben wieder in ihre vertikale Position zu bringen und die blutige Perücke um seinen Kopf zu wickeln, bis er darunter verschwindet. Der Ton aus den Lautsprechern klingt wie Klapperschlangen. Ende der ersten „Obliteration”.

In der zweiten „Obliteration” vermischt Athey irgendeine Art Kleister mit seinem Blut und schmiert es über seinen ganzen Körper. Er ballt seine Hand zur Faust und steckt sie ganz in seinen Anus. Er beginnt zu stöhnen und nach Luft zu schnappen, während er seine Faust bewegt. Während Athey allmählich auf seinem Bauch zum Liegen kommt, kommen auch nach und nach seine Körperverrenkungen zum Stillstand. Ausblenden. Stille. Der Applaus beginnt, darunter einzelne „Yeah” Rufe. Athey hebt seine Hände wie ein alternder Preisboxer, der von sich selbst begeistert ist, dass er es bis in die Endrunde geschafft hat. Und dann helfen ihm zwei Assistenten, die Bühne zu verlassen. Die gesamte Performance dauert weniger als dreißig Minuten.

Ron Athey gehört zu einer Performance Strömung mit vielen Bezeichnungen-Body Art, masochistische Performance, extreme Performance Kunst. Zur Tradition gehören Leute wie Chris Burden, der in seiner Performance Shoot von 1971 von einem Freund in der linken Arm geschossen wurde, sowie Vito Acconci, Gina Pane, and Marina Abramovic/Ulay. Wiener Aktionismus ist auch präsent. Diese Art von Kunst kann verstörte Reflektionen oder sofortigen Ekel und Ablehnung provozieren. Aber auch wenn einer aus Prinzip die Idee ablehnt, dass nicht-mimetische Gewalt ästhetische Eigenschaften haben kann, ist es schwer nachzuvollziehen, wie einer nicht wenigstens von Body Art als kulturellem Phänomen fasziniert sein kann.

atheyAthey stellt kontinuierlich seine Performances in einen religiösen Kontext, porträtierte sich selbst als St. Sebastian und gibt seinen Werken Titel wie Deliverance, Incorruptible Flesh, und Surgical Stigmata. Aber für mich, dem nicht religiösen Kritiker, ist Atheys Werk irgendwie weniger verstörend als aktuelle Videos, die schiitische Muslime zeigen, die sich während des Ashura Feiertages selbst blutig schlagen, weniger verstörend als die christliche Selbstkasteiung. Religion hallt in Atheys Werk wider, aber das Leiden entsteht in einem gegenwärtigen Kontext, in dem Gott zu fehlen scheint. Insbesondere in einem Werk wie Self-Obliteration #1 & #2, fühlt sich Atheys Leiden einsam an; es beinhaltet den Sinn moderner Geworfenheit. Aber Atheys scheinbare Furchtlosigkeit beim Übertragen psychischer Schmerzen in körperliche, und seinem Versuch, Schönheit aus Materialien des physischen Leidens zu kreieren-die Blutglasfenster, zum Beispiel- leihen diese Elemente seiner Arbeit ein eigenartiges Gefühl von säkularer Transzendenz. Die Faszination an Atheys Spektakel geht jenseits bloßen Voyeurismus, jenseits des Interesses an gebrochenen Tabus. Selbst in einer Arbeit mit dem Titel Self-Obliteration ist der bezwingende Aspekt an Athey seine erstaunliche Zurschaustellung von Beharrlichkeit nicht zugunsten sportlichen Wettbewerbs, nicht im Namen Gottes, sondern vielmehr im Schaffen eines Kunstwerks, das unwiderlegbar sagt: Ich habe Schmerzen-und überlebe.