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Stilfragen des Pathos

Richard Maxwells neues Stück, Showy Lady Slipper, und 1839, eine Produktion der GAle GAtes Company

Von Daniel Mufson
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Wenn die Phrase „Oh my God“ von ein und derselben Schauspielerin mit ein und demselben distanzierten Tonfall gesprochen wird, egal, ob sie auf ein Gespräch über Kinofilme oder den tödlichen Autounfall ihres Freundes reagiert, spätestens dann weiß man, dass man sich in einem Richard Maxwell Stück befindet.

Showy Lady Slipper setzt das Experiment fort, das schon mit House und Cowboys and Indians Aufmerksamkeit auf sich zog: Einen Stil unter der Vorgabe zu finden, ihn eigentlich doch abzulehnen, einen Reichtum an Bedeutungen zu kreieren bei scheinbarer Unterminierung derselben. Auch dieses Stück präsentiert ein anderes Bild des american way of life—und zwar ein beunruhigendes.

John und Jennifer tun es, äußerst dezent, in Showy Lady Slipper.

Zwei Drittel der einstündigen Inszenierung Maxwells sind konzentriert auf der Teenager, Lori, Erin und Jennifer, die ihre Zeit mit Tratsch und Klatsch über Filme, Reiten, den Freundeskreis und ihre merkwürdigen Träume totschlagen. Gelegentlich gehen sie unvermittelt in Songs über, die mit gewollt farbloser, klischeehafter Lyrik übersät sind. Loris Freund John erscheint, um sich eine Modenschau der von ihnen am Vormittag gekauften Klamotten anzuschauen. Bei einer geheimen, aber leidenschaftslosen Umarmung der Freundesfreundin auf frischer Tat ertappt, flüchtet er Hals über Kopf von der Bühne. Sofort stürzt sich die zurückgewiesene Lori auf ihre verräterische Freundin mit dem erklärten Ziel, sie zu erwürgen, bis plötzlich das Telefon klingelt und die drei Mädchen erfahren, dass John soeben bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Augenblicklich lassen alle drei den Abend in süßer Harmonie mit dem Lied „Oh how I loved you / I can’t live without your love“ ausklingen und verlassen die Bühne genauso gleichmütig, wie sie sie kurz vorher betreten haben.

Die Idee hinter Maxwells Regie ist täuschend einfach. Er saugt das emotionale Leben so weit wie nur irgend möglich aus den Stimmen und Körpern der Schauspieler heraus. Showy Lady Slipper beginnt und endet mit einem Telefongespräch. Und in der Tat, während des ganzen Stückes sprechen die Charaktere mit der Leidenschaft von Anrufbeantwortern miteinander: technisch distanziert. Ähnliches gilt auch für die Bewegungen. Die Schauspieler verbringen einen Großteil ihrer Zeit schlaff und träge herumstehend. Wenn sie dann endlich die Energie aufbringen, sich zu bewegen, geschieht das mit der Bedächtigkeit eines Kindes, das Befehle seiner Eltern ausführt. Die Gestik der sexuellen Penetration ist dabei die extremste aller ökonomischen Bewegungen, angedeutet, wenn John mit seinem linken Bein zwischen Jennifers Knie gleitet.

Maxwells Regie pendelt zwischen Komödie und Pathos: eine Parodie der Lethargie, de gelegentlich dunkle, frustrierte Gedanken anspielt.

Die äußerliche Bewegungslosigkeit der Schauspieler (was Maxwell „neutral line delivery“, neutrale Zeilenübermittlung, nennt) lenkt lässig von der Strenge des Maxwellschen Textes ab. Die Konversation folgt einem stop and go-Rhythmus, in dem die Charaktere unsicher Themen aus sich selbst hervorzwingen, um das unbeholfene Schweigen zu vermeiden, das die Vergeblichkeit einer Wende zu Sinnvollerem verrät. Statt über die Ankunft Godots zu sinnieren, füllen die Mädchen ihre Wartezeit mit banalen Themen aus dem amerikanischen Alltag. Unter verbaler Trivialität lauern die Spuren eines tieferen Pathos: Erins Bemerkung, dass ihre Mutter sie hasse, fällt aus heiterem Himmel und löst sich sofort wieder in Luft auf. Als sie mit dem Tod Johns konfrontiert werden, einem Ereignis, das jegliches triviale Geschwätz von selbst verbietet, erstarren die Figuren und das Stück.

GAle GAtes – die Welt als Zitat

Während Richard Maxwell all seine Energie aufbietet, jedes noch so kleine Anzeichen von Glätte und Schliff in seinen Theaterpräsentationen zu vermeiden, schlagt eine Theater Company mit dem Namen GAle GAtes et al. einen völlig anderen Weg ein, nämlich den des barocken Spektakels. Wie alle ihre bisherigen Arbeiten ist auch die neueste Produktion 1839 von dem 29jährigen Michael Counts geschrieben, ausgestaltet und inszeniert worden. Wo Maxwells Figuren mit Sprache zuweilen unbeholfen umgehen, ordnet Counts sie einer Kaskade von Bildern unter, in der sie nahezu untergehen. Counts ersetzt Erzählung durch Themen und Charaktere durch Typen. Dieses Stück—unvorstellbar ohne die Unterstützung moderner Lichteffekte, Ton und Bühnentechnik—ist eine Off-Theater-Wiederentdeckung der Kunst um der Kunst willen, unter Verzicht auf soziales Engagement oder politische Verpflichtung, zugunsten erstaunlich schöner Bühnenbilder.

Die Company wurde 1995 von Counts und der Produzentin Michelle Stern gegründet, die in dem kürzlich wiederaufgenommenen Stück North Atlantic der Wooster Group auftrat. 1997 zog GAle GAtes et al. von Manhattan nach Brooklyn und wurde dort schnell populärer Bestandteil der rasant anwachsenen Kunstszene, die durch eine nicht unerhebliche Zahl an „Flüchtlingen“ aus Manhattans überhitztem Immobilienmarkt belebt wird. Counts und Stern erhielten ein großzügiges Angebot von einer Familie, die ein weitläufiges Areal in einer verfallenen Gegend Brooklyns besitzt, die auch als DUMBO—Down Under Manhattan Bridge Overpass—bekannt ist. In den über 3600 Quadratmetern eines ehemaligen Lagerhauses hat sich die Gruppe einen künstlerischen Außenposten geschaffen. Vorangegangene Stücke von Counts wie Field of Mars, ein wenig inspiriert durch Tacitus’ Bericht vom Brand Roms, nutzten den gesamten immensen Raum des Lagerhauses, um ein weites Labyrinth an Szenen entstehen zu lassen, durch welches das Publikum wandern konnte. Dieses Jahr nutzen sie einen Teil des Theaters für die gastierende Ausstellung Size Matters, auf der 400 Gemälde von genauso vielen Künstlern gezeigt werden. Die Einnahmen aus solchen Ausstellungen und aus der Vermietung des Gebäudes für Dreharbeiten und Partys, aber auch die Gelder von der selbstgeführten Bühnendesign- und Konstruktionsfirma für fremde Theater halfen, fast 40 Prozent des 300.000 Dollar-Budgets für die Saison 1998/99 zu erwirtschaften. Der verbliebene Raum des Gebäudes ist für 1839 erserviert, die 14. GAle GAtes Produktion.

1839 bezieht sich auf das Jahr der Erfindung der Daguerreotypie. In 1839 formuliert Counts Fragen, die für alle seine bisherigen Arbeiten wesentlich waren: die Relation von Bild und Narrativem sowie die Rolle, die Bild und Text im Gedächtnis spielen. Seine Arbeit ist ungehemmt assoziativ—freie Assoziation selbst ist eines seiner Themen. Die Vorstellung beginnt mit einer Diskussion der Figuren über die Bedeutsamkeit eines auf einem Sockel stehenden klassischen Frieses: Stellt es die Geschichte von Artemis und Orion dar oder doch eher die von Ödipus’ Vater Laios und dem Ursprung der Ödipus-Tragödie? Das Bild ist offen für Interpretationen. Andererseits engen aber Worte, Dialoge diese Offenheit wieder ein. So wie die Unbestimmtheit eines Bildes den Gedankenaustausch stimuliert, so verpufft auch die Neugier schnell wieder, wenn zweifelsfrei geklärt schient, dass das Fries den Ödipus-Mythos beschreibt.

Sophokles’ Ödipus Rex wird zu einem Anker im ausufernden Fluss von Symbolen und Tableaus: eine entfremdete Beziehung zwischen einem Jungen namens Henry und seiner Mutter; ein sich wiederholender Bezug zu einer sich aus dem Fenster stürzenden Frau; ein gigantisches Gürteltier, das bedrohlich in der Landschaft lauert; ein Bogenschütze, der seine Pfeile in die Ferne schießt und schließlich Apollo, der zu einer verfetteten Frau (im catsuit) mit Halskrause mutiert ist. Jegliche Verbindung zu Daguerre bleibt unklar. Ein Video zeigt einen sich öffnenden roten Vorhang—eine Referenz an Daguerres Dioramen sowie an seine Arbeit als Bühnenbildner für Theater und Opern? Die engste Verbindung, so scheint es, ist Counts Entschluss, sich unzählbarer Bilder der akademischen Malerei, Zeitgenossen Daguerres, zu bedienen—speziell solche von Jacques-Louis David: die ausgestreckten Hände des Schwurs der Horatier oder der liegende Akt von Madame Récamier. Auch diese visuellen Zitate sind nur angedeutet. Besonders eine Szene erinnert vage an letzteres Gemälde. Sie zeigt den jungen Henry, einen Dreispitz tragend, bei seiner Mutter stehend, die nackt und verträumt auf einer Chaiselongue ausgestreckt liegt. Ihre Unterhaltung wird in dem Moment nebensächlich, als das Stück Boden, auf dem die Chaiselongue steht, herausbricht und in den dunklen Bühnenabgrund sinkt. Das Durcheinander von Referenzen auf Persönliches, Kunst und Literatur mündet in eine Szenenfolge, die sich schnell wieder auflöst, damit sich die nächsten Assoziationen verdichten Können. Wenn das Publikum nicht gewillt ist, die Inszenierung zu einem Teil eines eigenen kreativen Prozesses werden zu lassen, wird der Abend wahrscheinlich nur als eine prätentiöse Serie von schönen Bildern ohne Seele vergehen.

Zitate der traditionellen Avantgarde des 20. Jahrhunderts strömen durch die gesamte Produktion. Obwohl das Video in 1839 von Philip Bussman gestalte wurde, dem Videokünstler von House/Lights und The Hairy Ape der Wooster Group, erinnert vieles in Counts Schaffen an die Generation X-Version von Robert Wilson, begleitet und beschleunigt von den technobeeinflussten Kompositionen des GAle GAtes-Komponisten Joseph Diebes.

Die Bilder sind oft betörend schön und hinterlassen starke emotionale Eindrücke. Inmitten einer Generation von jungen New Yorker Theaterkünstlern, die sich selbst zunehmend erfolgreicher einen Namen machen—wie Collapsable Giraffe, Elevator Repair Service oder Builders Association—sind Counts und Maxwell die verwirrendsten. Erfrischend verwirrend.

Madame Récamier? Auf der Chaiselonge? 1839, das Rätselstück der Company GAle GAtes.

Madame Récamier? Auf der Chaiselongue? 1839, das Rätselstück der Company GAle Gates.

Erst im Theater Heute erschienen, Februar 2000, S. 32/33.
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