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Azdak Heiner Müller

Der Kaukasische Kreidekreis auf Amerikanisch: Full Circle von Charles Mee

Von Daniel Mufson
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Brechts Kaukasische Kreidekreis beginnt und endet mit einer idealen Zukunftsvision: “Dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind.” In seiner Adaption des Brecht-Stückes wendet Charles L. Mee diese gefühlvolle Utopie auf eine Welt an, in der alles jedem gehört, der das nötige Geld hat. In seinem Full Circle wird Brechts Gouverneur zu Erich Honecker, begleitet von Hans Modrow und Egon Krenz. Getreu der Vorlage hat Honecker ein Baby, Karl Marx Honecker, das von seinen Eltern während der Wendeturbulenzen zurückgelassen wird, um es zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder abzuholen. Aus Brechts Grusche werden zwei Frauen: eine reiche Amerikanerin namens Pamela (angelehnt an die ehemalige amerikanische Botschafterin in Frankreich, Pamela Harriman) und Dulle Griet, die Breughel-Figur, die Brecht ursprünglich zu seiner Grusche inspirierte. Die vielsagendste Änderung allerdings ist die Verwandlung Azdaks in einen Schriftsteller und Regisseur namens Heiner Müller.

Zu Beginn des Stücks taucht Honecker mit seiner Entourage im Berliner Ensemble auf, um die Heiner-Müller-Inszenierung eines Stücks zu besuchen, in dem es um Verhandlungen zwischen zwei amerikanischen Investment-Bankern und drei Chinesen geht. Die stimmen zögernd einem Angebot der Amerikaner zu, die ihr Tal kaufen und dort genetisch verändertes Saatgut anbauen wollen. Als Gegenleistung sollen die Chinesen zweieinhalb Prozent des Gewinns erhalten. Am Ende des Stücks im Stück bemerkt einer der Chinesen trocken: „Gottlob. Wir dachten, der Kommunismus würde all unsere Probleme lösen. Jetzt sehen wir, dass der Kapitalismus sie lösen wird.“

Akten als eine Art Damoklesschwert: Full Circle von Charles Mee.

Gleichermaßen empört wie verwirrt von dieser Botschaft verlangt Honecker nach Heiner Müller und einer Erklärung des Stücks. Müller windet sich zu Honeckers Füßen in widersprüchlichen und lächerlichen Erklärungen, die Honeckers Ärger beschwichtigen sollen. Eine Schar aufgebrachter Studenten, die in Sprechchören Honeckers Verhaftung fordern, rettet Müller. Honeckers Frau übergibt ihr Kind an Pamela und Dulle Griet, die mit ihm Richtung Dresden fliehen. Von jetzt ab folgt das Stück Brechts Handlung, auf einigen Umwegen. So wandert beispielsweise der amerikanische Erfolgs-Investor Warren Buffet durch verschiedene Szenen, eine Dose Cola in der Hand und immer auf der Suche nach Anlagetipps—ein Objekt für Pamelas weniger mütterliche Begierden.

Was bedeuten Bananen?

Full Circle im American Repertory Theatre in Harvard läuft naturgemäß vor einem Publikum, das zum größten Teil keine Ahnung hat, wer Erich Honecker oder Heiner Müller waren, geschweige denn Egon Krenz und Hans Modrow. Dass Wall Street Journal beschrieb Heiner Müller in seiner Besprechung als „Stasi-Informanten und den letzten kommunistischen Oberspielleiter des Berliner Ensembles.“ Unbeeindruckt von eventuellen Wissenslücken seiner Zuschauer manipuliert Mee absichtsvoll deutsche Kulturgrößen und deutsche Geschichte in einer Weise, die von Heiner Müller und Brecht selbst inspiriert ist. Zu Beginn des Stücks fragt Müller Honecker, ob sein Kind sein Nachfolger sei. „Wir pflegen keine Titel zu vererben wie die Aristokratie“, wirft Modrow ein. Müller erwidert: „Natürlich, natürlich. Wissen Sie, wenn man historische Stücke schreibt, vergisst man leicht, wie die Dinge liegen.“ Die Antwort enthält nicht nur einen Seitenhieb auf Müllers Werk, sondern auch auf das von Mee, dessen Stücke in einem Sammelband unter dem Titel History Plays veröffentlicht worden sind.

Mee arbeitet häufig mit vorgefundenem Material, und sein frühes Werk zeigt sich deutlich beeinflusst von Heiner Müller. Umso bemerkenswerter, dass in Full Circle der Dramatiker als moralfreier Opportunist dargestellt wird, der, „scheinbar mutig“, „die Stimme eines Gewissens“ ist, das „genau weiß, wie weit es gehen kann—und keinen Schritt weiter“. Obwohl Mee eine Bombenrolle mit eindrucksvollen Reden für Heiner-Müller-Darsteller Will Lebow geschrieben hat, zeigt er herzhafte Abscheu für seinen Helden.

Full Circle hat einen gewissen trockenen Witz, nicht zuletzt dank Pamela, einer wohlhabenden Exzentrikerin, die ungerührt durch alle sozialen Umwälzungen trampelt. Unter aller Komik aber bleiben Ärger und Bitterkeit spürbar. Nationalitäten, Klassen, Ideologien, alles wird gnadenlos karikiert. Kein Mensch ist integer, außer vielleicht Dulle, aber selbst sie spricht von einer „hochsteigenden Schlechtigkeit“, die ihr Angst macht vor dem, was sie tun könnte, „wenn losgelassen“. Der Kapitalismus hat über den Kommunismus triumphiert, aber in Mees Stück ist das nur der Triumph einer Form sozialer Beschränktheit über die andere.

Robert Woodruff gelingt es mit seinem Ensemble, die Balance zwischen Farce und sozialem Kommentar zu halten. Doch streckenweise verliert sich seine Inszenierung in derselben seltsamen Mischung aus Schwerfälligkeit und Obskurität wie Mees Text. Einmal platziert Woodruff einen Ossi auf die Bühne, der gierig Bananen hortet. Darauf gibt es nur zwei mögliche Reaktionen: entweder die verständnislose des Durchschnittsamerikaners, der keine Ahnung von der Bedeutung von Bananen hat, oder die der Eingeweihten, die den „Scherz“ verstehen, ihn aber weder originell noch intelligent noch witzig finden. Zur Verteidigung ließe sich nur vorbringen, dass solche Klischees nicht viel undifferenzierter sind als die landläufigen Vorstellungen von Amerika, die in Europa kursieren…

Erst erschienen im Theater Heute, Juli 2000, Nr. 7, S. 68/69.
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